Seit Jahren gibt es unzählige Diskussionen in Klassenräumen, Vorlesungssälen und Onlineforen: ob 0,999… gleich eins ist. Lehrkräfte, Professorinnen und Professoren sowie mathematikaffine Onlinenutzer beteuern immer wieder, dass die Gleichung richtig sei. Eine unendliche Abfolge von Neunen hinter dem Komma entspreche zweifellos einerEins – auch wenn beide Dezimalzahlen keine einzige gemeinsame Ziffer haben. Sie kommen mit allerlei Erklärungen und Beweisen daher, die teilweise zwar einleuchtend sind, doch wie Umfragen und Erfahrungsberichte zeigen, weigern sich viele Personen dennoch, ihnen zu glauben. Wie sieht es auf der fachlichen Seite aus? Herrscht dort uneingeschränkte Einigkeit? Nicht unbedingt, wie sich herausstellt.
Schon früh in der Schule lernen wir, dass sich Zahlen auf verschiedene Arten darstellen lassen. Man startet mit dem Zählen der Finger, zieht dann aber eine etwas formalere Notation heran. Unter anderem gibt es römische Schriftzeichen, indisch-arabische und die in der westlichen Welt verbreiteten arabischen Schriftzeichen. Zudem lernen wir, rationale Zahlen als Brüche oder als Dezimalzahlen auszudrücken. Schnell stellt man fest, dass die Dezimaldarstellungen einiger Brüche unendlich lang sind, etwa bei ⅓. Allerdings sind die nicht endenden Ziffern hinter dem Komma nicht vollkommen willkürlich, sondern fangen ab einem bestimmten Punkt immer an, sich zu wiederholen, etwa: ⅐=0,142857142857…
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen– und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.
Anders verhalten sich hingegen so genannte irrationale Zahlen wie π oder √2, die unendlich viele Nachkommastellen haben, ohne dass ein periodisches Muster auftritt. Sie lassen sich insbesondere nicht als Bruchzahl ausdrücken. Um sie exakt darzustellen, wählt man daher ein Symbol, denn eine Dezimalschreibweise ist immer nur eine Näherung an den eigentlichenWert.
Eine einfache Erklärung
Zu den rationalen Zahlen zählen auch Beispiele wie 0,999…; 0,8999…; 0,7999… und so weiter. Also Zahlen, die mit einer unendlich langen Reihe von Neunen enden. Zu welchen Brüchen gehören sie? Eine einfache Erklärung, die manche Skeptiker zufriedenstellt, ist folgende: ⅓ entspricht der Dezimalzahl 0,333… Multipliziert man diese mit drei, erhält man 0,999… Gleichzeitig ergibt ⅓·3=1. Daher müssen Eins und 0,999… gleichsein.
Nicht alle geben sich mit dieser Erklärung zufrieden, denn der Sprung zwischen den Notationen führt zu Skepsis. Doch keine Sorge, es gibt eine ganze Reihe weiterer Beweise, die belegen, dass 0,999… gleich eins ist. Einer davon ist folgender: Man schreibt die periodische Zahl in der Dezimalschreibweise bis zur n-ten Stelle hinter dem Komma aus: 9·1⁄10+9·1⁄100+9·1⁄1000+…+9·⅒n. Nun lässt sich die 0,9 ausklammern, da sie vor jedem Summanden erscheint. Damit erhält man: 0,9·(1+⅒+⅒2+…+⅒n-1). Nun kann man die 0,9 als 1–⅒ umschreiben, um eine schönere Formel zu erhalten, die nur die Zahl ⅒ und 1 enthält: (1–⅒)·(1+⅒+⅒2+…+⅒n-1). Für eine solche Art von Gleichung haben Mathematikerinnen und Mathematiker schon vor mehreren hundert Jahren eine Lösung gefunden, nämlich: 1–⅒n. Genau dieses Ergebnis hat man wohl erwartet, denn 0,9999…9 mit Neunen bis zur n-ten Stelle entspricht einer Eins, abzüglich 0,00…01 mit der 1 an der n-ten Stelle.
Wenn man nun aber die volle periodische Zahl 0,999… betrachtet, deren Neunen niemals aufhören, dann wird n unendlich groß. In diesem Fall wird der Term ⅒n null. Die Lücke, die zwischen 0.999…9 und 1 geklafft hat, wurde in die Unendlichkeit verschoben. Das ist das Tückische, wenn man mit Unendlichkeiten arbeitet: Die Ergebnisse entziehen sich meist unserer Vorstellungskraft. Deshalb darf man seinem Bauchgefühl in diesem Bereich nicht trauen.
Eine eindeutig uneindeutige Darstellung?
Dieser ist nur einer von zahlreichen verschiedenen Beweisen, die zeigen, dass 0,999… gleich 1 ist– ebenso wie 0,8999…=0,9; 0,7999…=0,8 und so weiter. Tatsächlich kann man unendlich viele Beispiele für Zahlen finden, die nicht nur eine Dezimaldarstellung besitzen, sondern zwei. Und wie sich herausstellt, ist das keine Besonderheit unseres Zahlensystems. Wechselt man beispielsweise in die Binärnotation, die nur aus Nullen und Einsen besteht, taucht das gleiche Problem auf: 0,111… (was 1·½+1·¼+1·⅛+… entspricht) ist gleich 1. Ähnliche Fälle ergeben sich für Zahlensysteme, die eine andere Basis nutzen.
In der Diskussion scheint es also einen eindeutigen Sieger zu geben: das Lager, das 0,999…=1 verteidigt. Doch so ganz stimmt das nicht. Denn auch wenn Mathematik ein Fach ist, bei dem man Zusammenhänge exakt und meist ohne Interpretationsspielraum herleiten kann, lässt sich durchaus über die Grundlagen streiten. Wer sagt, dass die Rechenregeln, die zu der zweideutigen Dezimaldarstellung führen, die einzig richtigensind?
Neue Spielregeln
Zum Beispiel könnte man einfach per Definition festlegen, dass 0,999… kleiner ist als 1. Das ist an sich erlaubt, bringt aber ungewöhnliche Folgen mit sich. Wenn man etwa den Zahlenstrahl samt aller reellen Zahlen betrachtet und zwei beliebige Zahlen herauspickt, dann finden sich zwischen diesen beiden Zahlen stets unendlich viele weitere: Man kann immer den Mittelwert aus beiden Werten bilden, anschließend den Mittelwert aus diesem und einer der beiden Zahlen und so weiter. Wenn man allerdings annimmt, dass 0,999… kleiner ist als 1, dann gibt es keine weitere Zahl, die zwischen beiden Werten liegt. Man hat damit eine eindeutige Lücke auf dem Zahlenstrahl lokalisiert.
Das mag ungewohnt sein, aber ich bin sicher, dass die meisten von uns damit leben könnten. Doch hier hören die Besonderheiten nicht auf, unter anderem muss man die Addition neu definieren. Da auch in diesem System ⅓+⅔=1 gilt, muss entsprechend 0,333… + 0,666… = 1 ergeben– das heißt, sobald man eine Summe berechnet, muss man aufrunden, wenn man bei einem Ergebnis mit einer Lücke landet. Und dieses seltsame Aufrunden gilt dann ebenso für die Multiplikation, wodurch 0,999…·1=1 ergibt. Somit ist die Eins nicht mehr das neutrale Element der Multiplikation.
All diese seltsamen Eigenschaften und weiteren Folgen, die sich ergeben, wenn man das Gedankenexperiment weiterspinnt, hält Fachleute davon ab, den Ansatz ernsthaft als Alternative zu der herkömmlichen Mathematik in Betracht zu ziehen. Doch es gibt noch andere Ansätze, um die Mehrdeutigkeit von 0,999… loszuwerden. Sie haben ebenfalls Folgen, die sich auf unser »gewohntes« Rechnen auswirken, wenn auch teilweise weniger drastische.
Nichtstandard-Analysis als Alternative
Einer der beliebteren Wege– zumindest beliebter als die zuvor vorgestellte Idee– ist die Nichtstandard-Analysis. Sie geht auf die Anfänge der Analysis im 17.Jahrhundert zurück und wurde in den 1960erJahren von Abraham Robinson formalisiert. Diese Version der Mathematik lässt so genannte Infinitesimale zu, das sind winzige Werte, die näher an der Null sind als jede reelle Zahl. Die Theorie geht sogar noch weiter: Auch die Inversen von Infinitesimalen haben darin einen Platz– also unendlich große Zahlen.
Diese Umgebung ermöglicht es, zwischen 1 und 0,999… zu unterscheiden, wenn sie um eine Infinitesimale voneinander abweichen. Jene Variante der Analysis führt nachweislich zu keinerlei Widersprüchen (sofern die herkömmliche Analysis das auch nicht tut) und ist somit gleichwertig zum herkömmlichen Fachgebiet– doch leider wesentlich komplizierter, weshalb sie sich als wahre Alternative nicht durchgesetzthat.
Somit lässt sich nicht eindeutig sagen, ob 0,999…=1 ist. Wenn man mit den uns vertrauten Zahlen und Rechenregeln arbeitet, dann ist die Gleichung zweifelsohne wahr. Wer damit allerdings ein Problem hat, kann sich auf eine andere Version der Mathematik stützen, welche die Gegenseite vertritt– und mit den teilweise unbequemen Konsequenzen leben. Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!